Own Retail Verkauf
Ein verhängnisvoller Fehler?
Marina Kurz | 26.02.2024
In der langen Unternehmensgeschichte trug der Own Retail stets entscheidend zur Gesamtkultur des Konzerns und zum Prestige der Marke Mercedes-Benz bei. Mit der Entscheidung, die eigenen Niederlassungen zu verkaufen, gibt Mercedes-Benz nun einen Teil seiner DNA auf. Denn dieses Vorhaben bedeutet eine tiefgreifende Veränderung im Vertrieb. Selbst die Mercedes-Welt am Salzufer in Berlin soll nach Medienberichten zur Disposition stehen. Doch mit Einführung des Vertriebs der Zukunft stellt die Veräußerung der Niederlassungen lediglich ein weiterer Schritt in Richtung Direktvertrieb und Digitalisierung dar. Betroffen von dieser Entscheidung sind rund 8.000 Beschäftigte an über 60 Standorten.
Mercedes-Benz hat in seiner nahezu 100jährigen Unternehmensgeschichte eine einzigartige Identität und beeindruckende Tradition aufgebaut. Dazu gehörten bislang auch die Mercedes-Benz Autohäuser, in die interessierte Kunden strömten, um die neuesten Mercedes-Modelle mit all ihren Sinnen zu erfahren und sich für einen Kauf oder Leasingvertrag inspirieren zu lassen. Es waren die Persönlichkeiten im Vertrieb, die maßgeblich zum großen Erfolg der Marke und so zu seinem unvergleichlichen Mythos beitrugen. Sie haben dem Kunden unsere Produkte nahegebracht und der Kunde fühlte sich bei seinem Kundenberater gut aufgehoben. Es gab Zeiten, in denen man guten Kunden bei der Abholung seines Mercedes als Zeichen der Wertschätzung nicht nur einen Blumenstrauß überreichte, sondern auch einen vollen Tank. Heute sind diese kleinen aber feinen Annehmlichkeiten , die uns vom Wettbewerb unterschieden - dem Sparzwang und dem Streben nach höherer Marge zum Opfer gefallen. Heute fokussiert sich der Vertrieb der Zukunft auf den Direktvertrieb mit einer verstärkten Digitalisierung, das zwar "ein einzigartiges Einkaufserlebnis" verspricht, aber dabei in der Anonymität endet. Bereits 2014 signalisierte der Vorstand mit dem Verkauf von Niederlassungen an Lei Shing Hong, dass man beim Vertrieb neue Wege gehen will.
Es sind gerade die 8.000 Kolleginnen und Kollegen im Own Retail, die mit unseren Kunden im Kontakt stehen und unsere Marke nach außen repräsentieren. Um profitabler und effizienter zu werden, haben eben diese Kolleginnen und Kollegen jahrelang auf Entgelt und Ergebnisbeteiligung verzichtet. Sie machten zahlreiche Zugeständnisse und hielten die mit unzähligen Struktur- und Prozessanpassungen einher-gehende massive Arbeitsverdichtung aus. Jetzt, nachdem der Own Retail seit fünf Jahren rentabel und seit drei Jahren einen positiven Beitrag zum Konzernergebnis beiträgt, ist die "Braut" hübsch genug für den Verkauf. Ein Schlag ins Gesicht! Die Beschäftigten in den Niederlassungen fühlen sich vom Vorstand verraten und verkauft.
Diese Entscheidung des Unternehmens hinterlässt beim Betriebsrat Verständnislosigkeit und läutet einmal mehr eine Zeit der Unsicherheit ein. Sie lässt uns nicht nur völlig im unklaren darüber, wie es um die zukünftige Betreuung unserer Kundschaft bestellt ist, sondern auch über die direkten Auswirkungen dieses Vorhabens auf unsere Beschäftigten in der Zentrale. Insbesondere auch bei Rückrufaktionen wie die aktuelle, bei der weltweit 250.000 Modelle AMG GT, C-Klasse, CLE, E-Klasse, EQE, EQS, GLC, S-Klasse und SL mit Baujahr 2023 in die Werkstätten gerufen werden.
Wir Betriebsräte sehen diese Pläne äußerst kritisch und mit großer Sorge, da der Own Retail in unserer Organisation zudem sehr eng verwoben ist. Doch im Fahrzeuggeschäft weht im Wettstreit um Marktanteile ein zunehmend eisiger Wind. Da Mercedes für deutsche Innovationskraft und "Made in Germany" steht, ist ein herausragendes Image von existenzieller Bedeutung. Umso wichtiger werden ein exzellenter Service mit empathischen und kompetenten Verkäufern. Ob das dem Unternehmen mit einem möglichen Franchising oder einem Kahlschlag der Niederlassungen gelingen wird, ist fraglich.
Fazit: Das Außenbild der Marke Mercedes und des Unternehmens hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Mercedes hat sich bereits bei vielen Sportarten aus dem Sponsoring zurückgezogen. Unsere Mercedes-Sterne - vielerorts abgebaut - leuchten nicht mehr als der „gute Stern“ auf allen Straßen. Auch Taxis stehen seit geraumer Zeit nicht mehr für edle Mercedes-Limousinen. Nun werden in naher Zukunft wohl auch noch die Mercedes-Autohäuser aus dem Stadtbild verschwinden.
Eine verlässliche Strategie ist seit Jahren nicht mehr erkennbar. 2016 läutete Dieter Zetsche bei Mercedes-Benz mit dem Programm CASE (Connected, Autonomous, Shared & Electric) das neue Zeitalter der Elektromobilität ein. 2020 präsentierte das Unternehmen eine strategische Neuausrichtung, mit der man im Luxus-Segment profitabel wachsen wollte. Es folgte "Electric first", mit dem klaren Bekenntnis zum Neckartal und unserer Ambition "Lead in Electric Drive". Kurz darauf wurden die Weichen in Richtung "Electric Only" gestellt. Ab 2025 sollten alle neuen Fahrzeug-Architekturen ausschließlich elektrisch sein. Dieses Ziel wurde jedoch schnell angepasst. Bei Markteinführung unserer EQ-Baureihe noch voller Enthusiasmus, trafen die EQ-Modelle - insbesondere der EQS - nicht den Geschmack unserer Kunden. Auch die Qualität insgesamt passte so gar nicht mehr zum Luxusansatz. Es kam der Wandel von der Luxusstrategie zur Mercedes-Benz-Strategie, von der wir Beschäftigte nicht so recht wissen, wohin die Reise hingehen soll. Marge! Marge! Marge ist der einzig erkennbare Ansatz, dem absolut alles im Unternehmen untergeordnet wird! Mit der Präsentation der neuesten - durchaus respektablen - Geschäftszahlen rudert man jetzt zurück zu "Electric First" und verschiebt das Ende des Verbrenners auf unbestimmte Zeit.
Mercedes bleibt bei der Strategie bestenfalls taktisch flexibel - genau genommen unbestimmt und unberechenbar. Mit einem Verkauf der Niederlassungen schwindet nun die Strahlkraft und die Sichtbarkeit des Sterns. Unsere Mercedes-Produkte laufen Gefahr, beliebiger und weniger exklusiv zu erscheinen, wenn sie in naher Zukunft neben den Fahrzeugen der Konkurrenz aus China in unseren veräußerten Showrooms stehen. Ob und wie unsere Autohäuser eine Zukunft haben werden, ist aus heutiger Sicht noch ungewiss. Wir halten Sie auf dem Laufenden.